Reisebericht: Bratislava

von Clemens Beyer

Bekanntlich sind mit 1. Mai 2004 zehn Staaten der EU beigetreten. Neben zahlreichen Veranstaltungen und Festakten zu diesem Thema waren am 1. und 2. Mai die Euregio- Zugverbindungen in unsere östlichen Nachbarländer gratis zu benutzen. Aus diesem Grund entschließe ich mich, einen Tagesausflug nach Bratislava zu unternehmen und bei dieser Gelegenheit natürlich auch das dortige Straßenbahnnetz (Spurweite: 1000 mm) kennenzulernen.

Da ich annehme, dass bei den Gratis-Zugfahrten großer Andrang herrschen wird, finde ich mich bereits 45 Minuten vor der Planabfahrt des ER 2522 (10.16 Uhr ab Wien Südbahnhof Ostseite) am Bahnsteig ein. Drei Schlieren und zwei slowakische Abteilwagen stehen bereit, Fahrgäste sind um halb zehn aber noch Mangelware. Der Zug füllt sich nur sehr, sehr langsam, wird aber bis zur (pünktlichen) Abfahrt dennoch so voll, dass etlichen Fahrgästen nur ein Stehplatz im Auffangraum oder auch mitten im Wagon übrig bleibt. Die Fahrt nach Bratislava über Marchegg (der Zug wird von einer Diesellok der Reihe 2143 gezogen) verläuft angenehm und ohne besondere Vorkommnisse, lediglich der Grenzaufenthalt beschert uns etwa eine Viertelstunde Verspätung, da die slowakischen Zöllner jeden Reisepass genauestens kontrollieren.

Vorab habe ich mich bereits im Internet unter der Adresse http://imhd.sk/ba/ ausführlichst über die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Bratislava informiert und mir einen Netzplan im DIN-A2-Format ausgedruckt, sodass mir lediglich die Fahrkarten zum Fahrtantritt fehlen. Da es auf besagter Website auch Informationen zum Tarifwesen gibt, weiß ich auch genau, welche Fahrscheinarten ich benötige und da ich im Euregio zufälligerweise einen Studienkollegen getroffen habe, dessen Muttersprache Slowakisch ist, habe ich auch hierbei keine Probleme, denn Stani (Danke!!!) ist mir eine große Hilfe, beim Fahrscheinerwerb die Sprachbarriere zu überwinden.

Und dann geht es auch schon los: Direkt vor dem Hauptbahnhof (Hlavná stanica), allerdings eine Etage tiefer, befindet sich eine geräumige dreigleisige Schleifenanlage, wo die Linien 1, 2, 3 und 8 ihre Endstation haben. Der Wagenpark der Straßenbahn besteht ausschließlich aus alten Tatra T3 (4-achsige Großraumwagen, Baujahre 1964-1989), alten K2 (6-achsige Gelenkwagen, Baujahre 1969-1983) und den jüngeren T6A5 (4-achsige Großraumwagen, Baujahre 1991-1993 und 1997). Etliche der T3 und K2 sind in unterschiedlichem Ausmaß modernisiert worden, was für eine gewisse Abwechslung im insgesamt knapp 250 Fahrzeuge umfassenden Fuhrpark sorgt.

Die K2 sind nur solo unterwegs, während die Großraumwagen in Doppeltraktion verkehren. Bei den älteren Fahrzeugen sind immer alle Stromabnehmer eines Zuges angelegt, bei den T6A5 überraschenderweise immer nur der Bügel des zweiten Wagens. Es fällt außerdem auf, dass die Wagennummer des zweiten Wagens im Normalfall immer um 1 höher ist als die des ersten Triebwagens. Dies hat einen einfachen Grund: Die Fahrerstände der jeweils zweiten Wagen wurden nicht modernisiert, sondern offensichtlich stillgelegt. Man könnte also auch von Triebwagen und motorisierten Beiwagen sprechen, wenngleich dies nicht der Fahrzeugkonstruktion entspricht - die einzigen Beiwagen, die es tatsächlich in Bratislava gibt, sind historische Fahrzeuge.

Typisch für den ehemaligen Ostblock ist das so genannte Nachfrageliniennetz (im Gegensatz zum Achsenliniennetz, nach dessen Grundprinzip beispielsweise das Wiener Straßenbahnnetz konzipiert ist): Auf jeder Strecke fahren mehrere Linien, die aber unterschiedliche Endpunkte haben. Somit kann auf vielen Relationen umsteigefrei gefahren werden. Trotz eines im ersten Moment dürftig erscheinenden 20-Minuten-Taktes je Linie an Sonn- und Feiertagen (10 min an Werktagen) ergibt sich somit ein recht dichter Verkehr mit kurzen Wartezeiten. Das Tarifsystem ist relativ einfach aufgebaut: Die verschiedenen Preisstufen der Fahrscheine entsprechen unterschiedlich langen Geltungsdauern. Solange der Fahrschein gültig ist, kann damit überall gefahren werden; auch Fahrtunterbrechungen sind gestattet. Der "normale" Einzelfahrschein kostet 18 Kronen (ca. € 0,45) und ist 30 Minuten ab Entwertung gültig; an Wochenenden verlängert sich die Gültigkeitsdauer aller Tickets um 50 %, diesfalls daher auf 45 Minuten. Die Uhrzeit ist also das entscheidende Kriterium, daher wird sie dem Fahrgast gleich drei Mal "unter die Nase gerieben": als kleine Digitalanzeige am Entwerter, als Stempelaufdruck am Fahrschein und als große Digitalanzeige an der Fahrerstandsrückwand. Ist die vorgegebene Zeitperiode um, muss der nächste Fahrschein entwertet werden bzw. ist das Fahrzeug zu verlassen, um sich einen neuen Fahrschein bei einem der Automaten oder Kioske zu besorgen, die - um es mit einem ungewöhnlichen Vergleich auszudrücken - genau so häufig zu finden sind wie in Wien ein Hundstrümmerl. Apropos: Ein solches habe ich in Bratislava kein einziges Mal gesehen; entweder gibt es dort sehr wenige oder aber sehr pflichtbewusste Hundebesitzer.

Wie es bei Tatra-Wagen üblich ist, wird ziemlich forsch gefahren - starkes Beschleunigen und abruptes, teilweise auch stoßweises Bremsen ist etwa mit dem zu vergleichen, was man in Wien von den Autobussen her gewöhnt ist. Es erscheint daher auf jeden Fall empfehlenswert, sich gut festzuhalten, wenn man keinen Sitzplatz ergattern konnte. Dieser Fall tritt leider ziemlich oft ein, da beispielsweise ein T3 über einen offiziellen Fassungsraum von lediglich 22 Sitzplätzen, aber unglaublichen 140 Stehplätzen verfügt. Der Zustand der Gleisanlagen ist relativ unterschiedlich: Auf den Außenstrecken ist ein schnelles Fahren ohne gröbere Erschütterungen möglich, während vor allem die kurvenreichen Strecken in und um das Stadtzentrum teilweise abenteuerlich aussehen. Das Fahrpersonal, das übrigens keine Uniformen trägt, scheint aber über den Gleiszustand bestens Bescheid zu wissen, da es keinerlei Erinnerungssignale gibt, die auf Geschwindigkeitsbeschränkungen wegen schlechten Erhaltungszustandes hinweisen. Man vertraut hier scheinbar lieber auf Erfahrung - Entgleisungsspuren, vor allem an Weichen, lassen aber erkennen, dass dies nicht immer gut ausgeht.

Auch bei den Fahrzeugen selbst ist ein gewisser Hang zur Improvisation erkennbar, der vermutlich aus notorischem Geldmangel heraus entstanden ist - so bestehen etwa die meisten aller Scheiben auf der Fahrerstandtür aus zugeschnittenem Plexiglas, das einfach auf die Fensteröffnung geschraubt und teilweise auch nur angenagelt ist; Weichenkrücken sind oft abenteuerlich verbogene plumpe Eisenstangen, die lediglich am unteren Ende keilförmig zulaufen. Das vorhandene Budget wird bzw. wurde zielorientiert eingesetzt; alle führenden Triebwagen verfügen über IBIS-Geräte und weiters alle Wagen über ein Innendisplay, das die Uhrzeit und die Tarifzone (1 oder 2) anzeigt. Fahrgastinformation gibt es nur wenig: Während in den Autobussen und Obussen ein Display die nächste Haltestelle bzw. das Fahrziel anzeigt, kann man sich in der Tramway nur an Hand der Routentafeln orientieren. Diese sind allerdings in allen Wagen vorhanden und scheinen nicht - wie in Wien - regelmäßig entwendet zu werden. Haltestellenansagen sind Mangelware, die offenbar einst vorgesehenen Ausnehmungen für Lautsprecher sind allesamt verblecht.

Die weitere Fahrzeugausstattung ist aus Fahrgastsicht klar strukturiert; man findet sich auch ohne Beschriftung sofort zurecht: Bei jeder Tür gibt es innen und außen grüne Drucktasten zum Öffnen bzw. zur Haltewunschanmeldung; alternativ ist auch zentrales Öffnen durch den Fahrer möglich. Das Abfertigen des Zuges erfolgt prinzipiell nur durch Zentrales Schließen: Zuerst ertönt bei jeder Tür ein Signalton (Rasselglocke bzw. Schnarre) und eine orange Warnlampe an der Unterseite des Türmotorfachs leuchtet auf; danach schließen die Türen. Die Dauer des Warnsignals ist unterschiedlich und liegt im Ermessen des Fahrers, der den Fahrgastwechsel bzw. dessen Ende selbstverständlich über den rechten der beiden Außenspiegel beobachten kann. Weiters befinden sich Entwerter in der Nähe der Türen; weitere Hinweise (Rauchverbot, während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen, Behindertensitz, Kinderwagenplatz etc.) werden dem Fahrgast über leicht verständliche Piktogramme mitgeteilt, so wie auch die Haltestellenzeichen eigentlich nichts anderes als große, aufgeständerte Straßenbahn-, Obus- oder Autobuspiktogramme sind.

Das erwähnte Nicht-Vorhanden-Sein von Fahrgastinformation wird mir am Nachmittag fast zum Verhängnis: Als ich die Rückreise nach Wien antreten und somit den Hauptbahnhof ansteuern will, wundert es mich, dass die sonst auf die Minute pünktlich verkehrende Straßenbahn ausbleibt. Ich bemerke schließlich, dass ein Festakt anlässlich des EU-Beitritts am Kai zu einer Streckensperre geführt hat und die Linie 1 offenbar abgelenkt wird. Es gibt keine Informationslautsprecher an den Haltestellen und auch keine diesbezüglichen Avisotafeln (solche waren zwar schon vorhanden, betrafen aber nur andere Ereignisse, wie ich am Datum erkennen konnte - wirklich entziffern hätte ich sie mangels Sprachkenntnis ja ohnehin nicht können). Allerdings ist an Polizeifahrzeugen, die auf den Gleisen abgestellt sind, zu erkennen, dass hier nix weiter geht. Da jedoch ausreichend andere Linien den Bahnhof anfahren, ist nach einem Blick auf den Streckenplan und einem kurzen Fußmarsch schnell Ersatz gefunden, sodass das Erreichen des Euregios für die Rückreise nach Wien kein Problem darstellt. Glück gehabt: Kurz nachdem ich im Zug sitze, prasselt ein kurzes, aber überaus heftiges Gewitter auf die Stadt herunter. Zum Abschluss noch ein interessantes Detail: Unmittelbar nach dem Verlassen des Hauptbahnhofs muss die Bahn mittels zweier parallel verlaufender eingleisiger Tunnelbauten unter dem Burgberg hindurch. Auch die Straßenbahnlinien 5 und 9 haben - weiter südlich und somit fast direkt unter der Burg gelegen - eine solche Tunnelstrecke.